|
ir müssen noch einmal auf den historischen Ablauf zu sprechen kommen. Mit dem
zunächst vorläufigen Triumph Padmasambhavas war der Konsolidierungsprozess des Lamaismus im Himalaja, wie erläutert, nicht abgeschlossen. Unabhängig von den
Auseinandersetzungen mit den Bön durchlitt auch der tibetische Buddhismus selbst eine lange Periode der Agonie und religiöser Wirren. Ursächlich dafür war vor allem, dass es dem
herrschenden Rotmützen-Orden nicht gelang, ein stabiles religiöses System, eine funktionierende Hierarchie zu etablieren, die die Machtverteilung zwischen einer zentralen
Führung, die es freilich noch nicht gab, und dem Einflussbereich der Klöster regelte. Zudem lag auch das klösterliche Leben der Rotmützen in weitgehender Regel- und Niveaulosigkeit danieder.
m 14. Jahrhundert trat endlich der große Reformer Tsong Kapa auf den Plan, der Tibet schließlich von seiner Anarchie erlöste. Er
erneuerte noch einmal die buddhistische Lehre, indem er vor allem die vom Bön übernommenen magischen und okkulten Einflüsse, auf die noch näher einzugehen sein wird, wieder zurückdrängte. Durch die
Gründung seines streng geführten Gelugpa-Ordens der Gelbmützen mit seinem Stammkloster Ganden reformierte er auch das klösterliche Leben. Der sich machtvoll entwickelnde Orden übernahm sehr bald die
Führerschaft im tibetischen Buddhismus, die bis heute fortbesteht.
urz vor seinem Tode setzte er seine beiden fähigsten Schüler als Nachfolger ein und, damit greifen wir stark verkürzend weit in die
Gegenwart vor, prophezeite ihnen, sie würden sich als oberste Lamas des tibetischen Buddhismus künftig ständig neu verkörpern. Letztlich
wurde Tsong Kapa so zum Begründer der fortdauernden Wiedergeburtsfolge von Dalai- und Pantschen-Lama als oberste geistige und weltliche Herrscher Tibets. Ursprünglich nahm
hierbei der Pantschen-Lama, der „Juwel des Gelehrten“ und Inkarnation von Buddha Amithaba die oberste Rangposition vor dem Dalai Lama, dem „Ozean des gelehrten Wissens“ und
Inkarnation von Bodhisattva Avalokiteshvara ein. In späterer Zeit kehrte sich dies Verhältnis um und zunehmend konzentrierte sich die Macht auf den Dalai Lama. Heute genießt der
regierende 14. Dalai Lama unter den tibetischen Buddhisten und weit darüber hinaus höchste Autorität und Verehrung.
MYSTIK UND DÄMONENKULT GREIFEN UM SICH
oweit ein kurzer, als Überblick nützlicher historischer Abriss. Wir müssen jedoch noch
einmal näher auf die substantiellen Auswirkungen der nach all den geschilderten Wirren schließlich doch vollzogenen Vereinigung mit den Bön eingehen. Die Integration der Bön-
Götter als Meditations- und Schutzgottheiten der buddhistischen Lehre brachte es unabdingbar mit sich, dass auch der mit der Glaubenswelt der Bön verbundene, geheimnisvolle
Geister- und Dämonenkult, seine magisch-okkulten Praktiken und Zeremonien, Eingang in den tibetischen Buddhismus, nun als Lamaismus, fanden. Gerade von den Mönchen des
Rotmützenordens wurden sie bereitwillig aufgenommen und gepflegt.
ies gilt vor allem für den in der religiösen Praxis zentralen Aspekt der Meditation. Denn auch im Lamaismus
ist die Erleuchtung und der Weg zum Nirwana das zentrale Ziel und wichtigstes Werkzeug zur Erleuchtung ist die Meditation. Unter dem Einfluss des Bön erlangten hier
zunehmend mystische Rituale und magische Vorstellungen Bedeutung, durch die die Verbindung mit den Meditationsgottheiten hergestellt und die Schutzgottheiten
wohlwollend gestimmt werden mussten. Dazu gehört etwa der Gebrauch okkulter Utensilien wie Schädelschalen und Amulette, der Einsatz von Trance-Techniken oder die Anwendung exorzistischer Rituale und
Beschwörungsformeln durch sog. “Ngag-Pas”. Ganz wichtig sind auch geheime Zeichen und magische Silben, die unter dem Einfluss des Tantrismus, über den wir noch zu
sprechen haben, als Mantras, Yantras und Mudras eine dominierende Stellung erlangten.
uch im Leben außerhalb der Klöster fanden okkulte Praktiken breiten Anklang. Die
tagtägliche Erfahrung etwa in der Auseinandersetzung mit den übermächtigen Naturgewalten des Landes lehrte die Tibeter, daß Mensch und Natur, natürliche und übernatürlichen Sphären
keine getrennten Seinsbereiche darstellen, sondern unauflöslich miteinander verflochten sind. Als Folge dieser empfundenen mystischen Verflechtung aller Erscheinungen der Welt haben
die Tibeter im Laufe der Jahrtausende eine überreiche Fülle magischer Riten und Praktiken entwickelt, mit denen sie sich gegen die dahinter vermuteten Mächte zu wappnen suchten.
In ihrer phantastischen Vielfalt und bestimmenden Kraft für das Leben der Menschen sind sie wohl als einmalig anzusehen. Zu allen Zeiten, auch bereits in vorbuddhistischer Zeit, gab es
in Tibet eine große Anzahl von “Magischen Spezialisten”: Dämonenbanner und Exorzisten, Wundertäter und Magier und auf rituelle Magie und die Herstellung von Schutzamuletten
spezialisierte Bön-Priester und Lamas. Zudem besteht für Tibeter grundsätzlich kein Zweifel darüber, dass Menschen und Geistwesen miteinander kommunizieren können und manche
Menschen die Fähigkeit haben, zum Sprachrohr der Götter zu werden. Formen des Orakelwesens auch für den Alltagsgebrauch, wie die Kunst des sog. „mo“, waren und sind bis
in die heutige Zeit im Himalaja-Raum weit verbreitet und wurden auch von den Rotmützen intensiv betrieben. Vergleichbares gab und gibt es auch auf der hohen politischen Ebene.
Gemeint ist etwa das von dem 5. Dalai Lama Losang Gyatso eingesetzte große tibetische Staatsorakel von Nechung, das bei allen wichtigen staatspolitischen Entscheidungen befragt wurde und wird.
in regelrechter Mythos rankt sich um die geheimnisvolle Kunst der Trance-Läufer, die ihre hohe Zeit gleichfalls in dieser
Periode des Lamaismus unter den Rotmützen hatten. Durch jahrelange intensive Meditation und geistiges Training der sog. „Lung-gom“ Technik, die eng dem Tantrismus entlehnt ist, im
Verein mit hochentwickelten Yoga-Praktiken erlangten die Trance-Läufer unglaubliche, wahrhaft magische Fähigkeiten. Im Prinzip hatten diese Techniken, verkürzt ausgedrückt, die
“Unterwerfung der Materie unter den Geist” zum Ziel. Alexandra David-Neel hat das Ergebnis aus eigener Beobachtung in ihrem
Buch „Mythen und Riten in Tibet“ beschrieben und auch Lama Anagarika Govinda berichtet in seinem Buch „Der Weg der weißen Wolken“ darüber. In ihrem über Tage anhaltenden
Trance-Zustand konnten die Läufer mit ausladenden Sprüngen und hoher Geschwindigkeit ohne Unterbrechung und ohne zu Ermüden große Entfernungen von mehreren hundert Kilometern
überwinden. Deshalb wurden sie vor allem als Boten in entfernte Teile Tibets eingesetzt. Sie bewegten sich dabei auch in unebenem, felsigen
Gelände mit instinktiver Sicherheit und wiesen hinterher keinerlei Verletzungen auf. Heute ist diese Kunst weitgehend in Vergessenheit geraten, zumindest hat es den Anschein.
ie Skala magisch-mystischer Phänomene und Praktiken lässt sich beliebig erweitern bis hin
zu grausig-okkulten Auswüchsen, wie etwa dem sog. „Ro-Lang“-Ritus, der „Tanzenden Leiche“. Er wird gleichfalls von Alexandra David-Neel in ihrem Buch „Magier und
Heilige in Tibet“ geschildert und ist zudem in alten Schriften überliefert. Ursprünglich wurde er von Bön-Priestern vor der Vereinigung mit dem Buddhismus bei Begräbnisfeierlichkeiten
ausgeübt. Aber erst geheime Zirkel der Rotmützen haben sie zu einer schauerlichen Meisterschaft erhoben. Danach wird ein Mönch mit entsprechenden Zauberkräften mit einer
Leiche in einem dunklen Zimmer eingeschlossen, um sie wieder zu beleben. Dazu muss er sich Mund auf Mund über die Leiche legen und dabei fortwährend eine bestimmte magische Formel
wiederholen, ohne jemals seine Gedanken abirren zu lassen. Nach wenigen Momenten beginnt der Leichnam sich zu bewegen, erhebt sich und will flüchten. Auch wenn die Bewegungen des
Leichnams immer heftiger werden, darf der Zauberer seinen Mund nicht von der Leiche lösen. Schließlich hängt die Zunge des Toten heraus, und das ist der entscheidende Moment. Der Magier
muss sie ergreifen und herausreißen, oder er stirbt. Die Leiche verfällt darauf sofort wieder in die Totenstarre und liegt unbeweglich da. Die vom Zauberer sorgfältig getrocknete und aufbewahrte
Zunge aber wird zu einer mächtigen Zauberwaffe. Inwieweit bei diesen höchst okkulten Vorgängen auch Sinnestäuschungen ein Rolle spielen, lässt sich heute kaum mehr beurteilen. Alexandra David-
Neel jedenfalls hat solch getrockneten Zungen real zu Gesicht bekommen. Diese Beispiele mögen zur Illustration der Adaption magischer Praktiken durch den Lamaismus genügen.
|